Schöne Geschichte!

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Über Claas Relotius wäre längst schon alles gesagt, wenn nicht tatsächlich recht wenig gesagt worden wäre. Die Selbstkritik der Branche ergeht sich nur in Oberflächenkratzen. Zeit für eine Ursachenforschung.

Die Wogen wollen sich nicht glätten, die Claas Relotius über den Flaggschiffen der Qualitätspresse aufgetürmt hat. Während der SPIEGEL immer noch an seiner reumütigen Offenlegung arbeitet, diskutiert man in den Gazetten unterdessen noch über den Schaden, den der Fälscher der Branche zugefügt hat. Wer hätte ahnen können, dass bei den Geschichten von dem sonst so sympathischen Claas etwas nicht stimmt? Und mal grundsätzlich gefragt: Vernebelt die Reportage nicht viel zu sehr die journalistischen Sinne, weil sie doch auch wirklich schnell zum Um- und Hinzudichten verführt, zum effektvollen Aufhübschen, ja letztendlich zum Geschichtenschreiben? So wie diese Geschichte über Fergus Falls zum Beispiel, die mittelamerikanische Kleinstadt, die Relotius mal eben so zur Brutstätte des archetypischen amerikanischen Hinterwäldlers umgedichtet hatte.
Die Peinlichkeit trifft natürlich mitten ins Herz eines jeden aufrichtigen Redakteurs. Nur reicht die Art und Weise dieser selbstauferlegten Ursachenforschung schon aus? Dem medienkritischen Teil der Bevölkerung scheint es jedenfalls längst zu dämmern, dass Relotius nicht einfach als ein Einzeltäter in die Skandalgeschichtsbücher der Presse einsortiert werden kann. Irgendetwas stimmt da nicht mehr mit den verbissen verteidigten Qualitätsstandards der Branche. Und auch wenn die Kritik sich schnell in schrillen Tönen verirrt, so lässt sich diese wohl kaum mit der phrasenhaften Absichtsbekundung überdecken, in Zukunft nun alles wieder ein bisschen genauer nehmen zu wollen.

Das Objektivitätsideal im Journalismus

Fangen wir doch stattdessen wieder bei den journalistischen Basics an. Beim Pressecodex, der meistens immer dann hoch gehalten wird, wenn es für den Journalismus brenzlig wird. Dort steht geschrieben:
„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.“
Durch die ethischen Gebote der Objektivität soll sich – so die Idee – die demokratische Funktion des Journalismus im redaktionellen Alltag in eine Berufspflicht übersetzen. Die Berichterstattung über relevante Ereignisse und Zusammenhänge stellt Öffentlichkeit her und unterstützt dadurch den demokratischen Diskurs.
Was als Idee richtig klingt, ist in der Praxis aber schon eine Fiktion. Denn bevor die eigentliche journalistische Arbeit beginnt, sind Redaktionen zuallererst gatekeeper (so der Fachbegriff aus der Medienwissenschaft), die aus der Flut an potentiellen Nachrichten diejenigen herausselektieren, die für berichtenswert erachtet werden. Der Grund ist ebenso simpel wie sinnvoll: Jede Gazette und jedes Magazin hat nur einen begrenzten (Zeit)Raum für Inhalte zur Verfügung, so dass Entscheidungen darüber getroffen werden müssen, wie eine gute Nachricht auszusehen hat, die sich von Belanglosigkeiten abhebt. Bestimmten Ereignissen und Informationen werden so Nachrichtenfaktoren zugeschrieben („räumliche Nähe“, „Betroffenheit“, „Negativität“ oder „Emotionalität“, uvm.), die den individuellen Schwellenwert jedes Blatts übersteigen oder eben nicht. Ob sie von den Redaktionen nun intuitiv oder kalkuliert herangezogen werden, spielt dabei keine große Rolle. Das Resultat ist letztendlich eine konstruierte Nachricht, ein Ausschnitt aus dem Strom potentieller Nachrichten, ein Frame, der bestimmte Informationen auf eine spezifische Weise in die öffentliche Sphäre hievt – und andere nicht.
Das muss jedoch noch lange nicht bedeuten, dass Qualitätsstandards wie Ausgewogenheit und Neutralität einfach über Bord geworfen werden. Idealtypisch sieht eine qualitative Berichterstattung so aus, dass das Medium einerseits relevante Ereignisse für die Öffentlichkeit selektiert und andererseits einen Frame eröffnet, der ein möglichst umfassendes Argumentationsangebot präsentiert. Insofern Pressemitteilungen von Parteien, Unternehmen, Verbänden etc. dies nur auf eine eingeschränkte Art und Weise tun, können Medien zudem ihrer kritischen Funktion gerecht werden, indem sie kontextbezogene Gegenargumente zur Verfügung stellen. Das alles ist, trotz des nicht zu vermeidenden Umstands der Nachrichtenselektion machbar, wenn genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um umfassend recherchieren zu können.

Der Medienmarkt…

Dieser qualitative Anspruch ist zweifelsohne der Markenkern, der nach Außen stets verteidigt werden muss, denn kein Leser möchte gerne hören, nur oberflächlich informiert zu werden. In der Praxis ist die Gratwanderung zwischen qualitativem Anspruch und ökonomischem Kalkül aber weitaus diffiziler, was mit dem Doppelcharakter des Medienmarktes zu tun hat (die Öffentlich-Rechtlichen einmal ausgeklammert, auf die das nur zum Teil zutrifft). Denn der potentielle Kunde ist sowohl der Rezipient wie auch der werbetreibende Unternehmer. Während der Leser/Zuschauer in erster Linie seine Erwartungen durch das Medienangebot erfüllt sehen möchte (so zum Beispiel die versprochenen Qualitätsstandards), geht es dem Werbetreibenden um das Erreichen einer relevanten Zielgruppe.
Ökonomisch rentabel wird ein Medienunternehmen unter diesen Voraussetzungen dann, wenn es über die Erschließung einer großen Anzahl an Rezipienten die eigene Werbeattraktivität erhöhen kann. Auf eine einfache Formel gebracht, bedeutet dies: Mehr Leser = mehr Werbeeinnahmen = mehr redaktionelle Ressourcen. Trifft dies nicht mehr zu, dreht sich die Spirale in die andere Richtung und die Ressourcen werden schnell knapper.
In diesem Kontext wird ersichtlich, dass Nachrichtenfaktoren und mediale Frames nicht notwendigerweise zwischen relevanten und irrelevanten Informationen selektieren, die aus demokratietheoretischer Perspektive wichtig wären. Sie sind vielmehr die Mittel, über die das Medium seine Kundschaft binden kann. Und zwar sowohl den Rezipienten, wie auch den Werbetreibenden.

…und sein Strukturwandel

Die größte Herausforderung für die Verlagshäuser ist heute das Internet, dessen Etablierung einem Meteoriteneinschlag auf der Presselandschaft gleichkommt. Vor allem für die jüngeren Generationen ist das digitale Informationsangebot dabei längst schon eine Selbstverständlichkeit.[1] Ein gravierender Strukturwandel, denn einerseits können die Blätter nicht auf eigene Online-Ableger verzichten, sonst würde man die immer größer werdende Zielgruppe verlieren. Andererseits grasen aber die kostenlosen Informationsangebote den „großen Schwestern“ die Leserschaft ab. Und das hat Folgen! Denn letztendlich sind die Online-Ableger nur sehr stark abgespeckte Versionen der großen Blätter, die Mittel und Ressourcen dieser Redaktionen eher limitiert. Informationen werden hier zu großen Anteilen von Nachrichtenagenturen und Pressemitteilungen übernommen und dem Kommentar ansonsten viel Spielraum gelassen.
Stilistisch passt man damit aber auch eher in das neue Medium, das Selbstinszenierungen wie Sand am Meer zu bieten hat und inhaltlich stark von den digitalen Trendsettern aus dem postmodernen Milieu dominiert wird. Eigenkreatives twittern, bloggen und content-managen ist in diesen Breiten Teil eines Lifestyles, der Selbstdarstellungen und Erlebnishunger mit allerlei Medienzitaten paart. Die laxe Bindung an alles Herkömmliche und die kreative Selbstneuerfindung wird hier als Lebensmotto praktiziert, während ernstere Nöte den Spaßbremsen vorbehalten sind. Anything goes ist die Devise, die Weltbilder nur noch für Sprachspiele hält, für selbstzusammengeschusterte (Medien)Identitäten. Mehr eine Sache der richtigen Haltung, statt dem realen Leben entsprungen. Und während es die Virtuosen unter ihnen teilweise sogar in die angesehenen Redaktionen schaffen, straft man gerne all jene mit dem Duktus der Zurückgebliebenheit ab, die sich damit partout nicht identifizieren wollen.

Zurück zu Relotius

Wer daher heute einen Blick in die selbsternannten Qualitätsjournale wirft – ob sie nun SPIEGEL, SZ, ZEIT oder auch NEW YORK TIMES heißen – der kann eigentlich recht schnell erkennen, aus welchen Grundelementen sich dort der mediale Frame zusammensetzt, der gleichzeitig auch zum Qualitätsstandard erkoren wurde. Er besteht aus einer Kombination neoliberaler Ratio mit postmoderner Moral. Diese narrative Struktur scheint nun die vielversprechendste Kernstrategie zu sein, mit der man versucht, in Zeiten der Zeitungskrise möglichst wenig zu verlieren. Die Herausforderung besteht zuvorderst darin, der digitalen Avantgarde wieder eine Bezahlvariante schmackhaft zu machen und damit auch möglichst wenige Werbekunden zu vergraulen.
Das Resultat klingt dann ungefähr so, wie im Leitartikel der SPIEGEL-Ausgabe 06/2015. Betitelt als „der Wutgrieche“:
„In Griechenland hat die Krise eine Regierung an die Macht gebracht, die neu ist in ihrer Mixtur aus Linksradikalen und Rechtspopulisten und deren einzige gemeinsame Basis der Kampf gegen Merkels sogenanntes Spardiktat ist. […] Das mag irrational sein, denn es waren die Griechen ja selbst, die sich so verschuldeten, dass ihr Land im April 2010 die Last nicht mehr tragen konnte. Aber mit der Spardomina Merkel hatte Tsipras eine Kunstfigur geschaffen, auf die er alle negativen Gefühle der Griechen lenken konnte.“[2]
Dass diese „Geschichten“ nun keine seltenen Ausrutscher sind, daran hat sich der MAKROSKOP-Leser bereits gewöhnt (hier die jüngsten Beispiele)[3]. An dieser Stelle darf man sich dann aber auch fragen, inwiefern sich derartige Storys von denen des dreisten Fälschers Relotius konkret unterscheiden? Eine Gemeinsamkeit sticht jedenfalls schnell ins Auge: Fergus Falls ist überall dort, wo gegen das Hohelied auf den Neoliberalismus opponiert wird. Mit einem postmodernen Moralismus gaukelt man dann dem Teil der Leserschaft eine gesellschaftskritische Haltung vor, die sich von den „Irrationalen“, die für die dissonanten Töne sorgen, abgrenzen möchte.
Letztendlich kann man daher Claas Relotius zurecht vorwerfen, dass er Details seiner Reportagen dreist gefälscht hat. An dem Frame aber, den der junge Redakteur stümperhaft und übertrieben schwülstig bedient hat, basteln die Gazetten selbst fleißig mit. Von dem Teil der Kundschaft, der diese Geschichten mit dem Objektivitätspostulat aus dem Pressecodex verwechselt, mag man so zwar noch gefeiert werden. Der Rest der Bevölkerung wendet sich aber zweifelnd ab und sucht die Qualität anderswo.

[1] Breunig, Christian; van Eimere, Birgit: „50 Jahre „Massenkommunikation“: Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien.“ In: Media Perspektiven, 11/2015. S. 512.
[2] Blome, Nikolaus et al.: „Der Wutgrieche“. In: SPIEGEL, 06/2015.
[3] Flassbeck, Heiner: „Schuld ist immer der Schuldner“. In: MAKROSKOP, 19.12.2018.

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