Der andere Krieg

Der Krieg der Reichen gegen die Armen eskaliert.
Empörungspropaganda
So etwa Alexander Dobrindt: Steuerflucht, massenhafter Betrug beim Mindestlohn, Wirtschaftskorruption ohne Ende – das alles ficht den CSU-Vorsitzenden im Bundestag und Ex-Verkehrsminister nicht an. Der 47-jährige Politkarrierist will den „kleinen Fischen“ noch härter ans Leder. Es geht um mutmaßliche „Hartz-IV-Schummler“, darunter offenbar auch organisierte Banden. Diesen und jedem, der Hartz IV missbrauche, entrüstete sich Dobrindt kürzlich gegenüber der Presse, sei das Handwerk zu legen.
Hintergrund ist ein reißerischer Titelseiten-Aufmacher der Bild unter der Überschrift „So betrügen Hartz-IV-Banden in Deutschland“. Weitere Medien, darunter die Welt und die Mitteldeutsche Zeitung, übernahmen das Geschrei. Die Bild suggerierte in ihrem „Artikel“ einen exorbitanten Anstieg von Missbrauchsfällen im deutschen Hartz-IV-System. Dazu berief sie sich auf einen internen Bericht der Bundesagentur für Arbeit (BA), wonach Jobcenter im vergangenen Jahr in 148.500 Fällen wegen Betrugsverdachts ermittelten.
Aufbauschen, lügen, verdrehen
Verglichen mit 2010 ist das jedoch ein drastischer Rückgang. Damals warteten die Behörden mit rund 225.000 vergleichbaren Verdächtigungen auf. Auch 2016 vermeldeten die Jobcenter gut 1.000 Fälle mehr. Es geht bei den 148.500 Ermittlungen auch keineswegs um einen gerichtlich festgestellten Betrug. Um solche einzuleiten, reicht der pure Verdacht eines Sachbearbeiters aus. Dahinter kann eine Anzeige durch Dritte stehen, die verzögerte Angabe eines Nebeneinkommens oder das Verheimlichen von „verwertbarem Vermögen“, wie einer Sparrücklage oder auch nur eines Geschenks der Oma.
Lediglich ein Drittel dieser Verfahren erwiesen sich demnach offenbar als relevant. Denn so viele übergaben die Jobcenter letztlich an Staatsanwaltschaft oder Zollamt. Letzteres prüft Firmen, die zum Beispiel Schwarzarbeiter beschäftigen. Am Ende verhängten die Hartz-IV-Behörden rund 21.300 Geldbußen. Heißt: In diesen Fällen konnten sie den Betreffenden mehr oder weniger nachweisen, eine Leistung „erschlichen“ zu haben. Doch auch das ist noch lange kein Gerichtsurteil. Der Weg zur Klage steht Sanktionierten offen.
Darüber hinaus geben die Summen, um die es geht, zu denken: Insgesamt ermittelten die Jobcenter demnach wegen 54 Millionen mutmaßlich zu viel gezahlter Euro. Das hört sich viel an, sind aber nur 360 Euro pro Fall. In einer Steueroase ist für Reiche gewiss mehr zu holen. Macht nichts, meint wohl die Bild-Redaktion. Empörungsmanagement zieht eben Leser.
Abgehängte in Gruppen spalten
Setzt man also die Zahl der tatsächlich mit einem Bußgeld Bestraften (21.300) ins Verhältnis zu den 4,3 Millionen „erwerbsfähigen“ Hartz-IV-Beziehern zwischen 15 und 65 Jahren, weiß man: Bei nur 0,5 Prozent der Bezieher erhärtete sich zumindest der Verdacht, zu Unrecht Leistungen bezogen zu haben. Selbst die 148.500 Verdächtigungen betrafen nicht einmal 3,5 Prozent der Leistungsberechtigten.
Doch der Pauschalverdacht gegen Hartz-IV-Bezieher hat wieder einmal neues Futter bekommen. Ähnlich läuft es bei Schlagzeilen über „faule Griechen“, „kriminelle Moslems“ oder „vergewaltigende Asylbewerber“. So bediente die Bild auch im aktuellen Fall das so fest sitzende wie falsche Klischee vom Rumänen, der quasi per se „mit Diebesbanden herumlungert“. Sie suggerierte eine angeblich drastische Zunahme des Hartz-IV-Missbrauchs durch organisierte osteuropäische Banden.
Dass es solche Banden genauso gibt, wie tricksende und lügende Politiker, darüber besteht kein Zweifel. Auch die BA schreibt in ihrem Bericht, dass dubiose Geschäftemacher vorwiegend aus Osteuropa gezielt Landsleute mit falschen Versprechungen in die BRD lockten. Dort täuschten sie Beschäftigungsverhältnisse mit den Betroffenen vor, um so Hartz IV für sie zu erwirken. Das Gros der Leistungen behielten sie dann ein. Von einem Anstieg dieser Fälle ist aber nicht die Rede. Eine Sprecherin der BA bezeichnete diese Methode, an Geld zu kommen, gegenüber Spiegel online als „Randphänomen“.
Reiche Schummler jagen arme Schummler
Wie man zu Geld kommt und Einkünfte geheim hält, weiß Alexander Dobrindt nur zu gut. Während seiner Zeit als Bundesverkehrsminister im „Kabinett Merkel III“ war er in die Kritik geraten. So kam im April 2014 heraus, dass der seit 2002 vom Steuerzahler fürstlich finanzierte heute 47-Jährige seine Einkünfte neben seinem fünfstelligen Ministergehalt in Höhe von 7.000 bis 15.000 Euro monatlich nicht gemeldet hatte, wie es verlangt wird. Auf Nachfrage sagte er damals gegenüber der Presse, er sei sich „keiner Schuld bewusst“.
Auch sein Unionskollege Jens Spahn (CDU), seit kurzem Bundesgesundheitsminister, leidet nicht unter Armut. Der nebenberufliche Pharmalobbyist verfügt laut Bundestag neben Ministergehalt und Diät über ein jährliches Zusatzeinkommen zwischen 41.000 und 94.000 Euro. Dennoch posaunte er kürzlich heraus, ein Hartz-IV-Bezieher mit 416 Euro plus „angemessener Miete“ sei nicht arm und versorge sich quasi nur aus Jux und Dollerei bei einer Tafel mit von Supermärkten entsorgter Nahrung.
Nicht nur, dass der ebenfalls seit 2002 vom Steuerzahler gepäppelte Jens Spahn offenbar vergessen hat, dass dieses Hartz-IV-Minimum bei kleinsten Auflagenverstößen auch noch bis auf null sanktioniert werden kann – und wird: Er hetzte Beschäftigte mit einer weiteren Lüge gegen Erwerbslose auf: Eine Verkäuferin verdiene ja noch weniger als ein Hartz-IV-Bezieher, behauptete er.
Dass dies nicht stimmt, ist einfach belegt: Selbst wenn eine Verkäuferin in Teilzeit einen geringeren Lohn bekäme, könnte sie, anders als jemand, der nicht arbeitet, entweder Wohngeld beantragen oder aufstocken. Bekommt sie zusätzlich Hartz IV, kann sie Freibeträge in Höhe von 100 Euro und 20 Prozent auf das Resteinkommen geltend machen. Hat sie Kinder und entscheidet sich dafür, kein zusätzliches Hartz IV zu beantragen, darf sie auch das Kindergeld behalten; bei Hartz-IV-Beziehern wird es vollständig angerechnet.
Ablasshandel und Müllentsorgung
Die Debatte darüber, ob jemand mit Hartz IV arm sei oder nicht, war bereits im Februar hochgekocht. Die Ursache lieferte die Tafel in der Ruhrmetropole Essen. Sie hatte befristet die Aufnahme von Migranten gestoppt, da diese angeblich einheimische Arme verdrängten.
Warum muss es Tafeln geben? Die Antwort der gesamten Bundesregierung war an Zynismus kaum zu überbieten. Für diese nämlich spricht Regierungssprecher Steffen Seibert. Der lobte Ende Februar bei einer Bundespressekonferenz die karitativen Resteverwerter über den Klee: Tafeln sorgten für weniger Abfall und seien eine schöne Tradition, fabulierte er im Auftrag der CDU-CSU-SPD-Regierung. Fragt sich nur, welche Tradition er meint: Die als Ablasshandel praktizierte klösterliche Mildtätigkeit im ausklingenden Mittelalter? Die Arbeitshäuser in der frühen Neuzeit bis ins späte 19. Jahrhundert hinein?
Doch auch die Tafeln selbst sehen sich als biologische Müllvermeider. In unzähligen Pressemitteilungen stellte der Vorsitzende des Bundesverbandes Tafeln Deutschland, Jochen Brühl, sein Unternehmen nicht nur als soziale, sondern größte ökologische Ehrenamtsbewegung dar. Der schöne Schein trügt: Längst hat sich aus der ersten Tafel im Berlin des Jahres 1993 ein konzernartiges Geflecht mit 937 übergeordneten Einrichtungen und rund 2.100 Essensausgabestellen entwickelt. Für Supermarktketten wie Lidl, Edeka und weitere, sowie für zahlreiche Großkonzerne sind sie zur festen Größe geworden: Um billig Abfälle zu entsorgen, Steuern zu sparen und Gratis-Imagewerbung mit karitativer Präsenz zu bekommen.
Armutsförderung mit McKinsey
Für das Wachsen des Tafelunternehmens zeichnet kein Geringerer mit verantwortlich, als die global agierende Denkfabrik McKinsey. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre unterstützt McKinsey Aufbau und Erweiterung selbiger mit eigens dafür abbestellten Mitarbeiten. Auch zwei Bücher zum Betreiben der Armenspeisungen hat der Think Tank den „Öko-Samaritern“ gewidmet.
Und nur wenig später saß McKinsey mit in der Hartz-Kommission. Was herauskam, ist heute zu sehen. Den Zweck dieser Agenda beschrieb Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2005 ohne Umschweife: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen“, lobte er. Dabei pries er auch sämtliche Kürzungen bei der Rente und im Gesundheitswesen.
Heute arbeiten die Tafeln eng mit dem Staat zusammen. Unzählige Hartz-IV-Bezieher zogen in den Anfangsjahren der Agenda 2010 vor Sozialgerichte, weil Jobcenter ihnen Leistungen verweigert und sie an Tafeln verwiesen hatten. Es bedurfte einen ganzen Packen Gerichtsurteile, um die Praxis einzudämmen.
Die Tafeln sind auch nicht für alle da: Erfüllt ein Hungriger bestimmte Bedingungen nicht, bekommt er dort nicht mal einen harten Brotkanten. Wer essen will, braucht einen Tafelausweis. Den bekommt er nur gegen Vorlage eines Bedürftigkeitsnachweises. Das kann ein Hartz-IV- oder Sozialhilfebescheid sein. Er braucht also ein Papier vom Staat. Das erhalten allerdings Obdachlose ohne Meldeadresse ebenso wenig, wie irgendeine Leistung. Die Ärmsten gehen also überall leer aus. Und: Keine Tafel muss jemanden bedienen.
Arbeitspflicht für Hungerlöhne
Inzwischen hat sich auch der frisch gebackene Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ein paar Worte zur Diskussion abgerungen. Der SPD-Mann will Armut mit gemeinnütziger Arbeit bekämpfen. Vier Milliarden Euro will Heil in einen entsprechenden Beschäftigungssektor stecken, sagte der 45-jährige seit 1998 im Bundestag Sitzende der Funke Mediengruppe.
So sollen Langzeitarbeitslose also Tätigkeiten verrichten, die kein Unternehmer entlohnen will, weil sie keinen unmittelbaren Profit bringen, aber trotzdem gesellschaftlichen Nutzen haben. Keine Frage: Da gibt es in unzähligen Bereichen jede Menge zu tun. Es klingt erst einmal nicht schlecht. Doch Vorsicht: Solche Ansinnen sind nicht neu und mit größter Vorsicht zu genießen. Außerdem wird das alles längst praktiziert.
Vor 25 Jahren wurden Erwerbslose mit schlechten Vermittlungschancen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) gesteckt, die miserabel, aber immerhin entlohnt wurden. Im Zuge der Agenda 2010 wurden daraus die Ein-Euro-Jobs. In ihrer Struktur übernahm man sie von der alten Sozialhilfe und vergab sie massenhaft. Allerdings sind sie keine Arbeitsverhältnisse im rechtlichen Sinne, sondern eine sozialpolitische Maßnahme. Heißt: Das Arbeitsrecht gilt nicht: Die Beschäftigten sind nicht sozialversichert, erhalten bei Krankheit und Urlaub keine Vergütung. Es gibt statt eines Lohns eine Aufwandsentschädigung von ein bis zwei Euro pro geleisteter Stunde, Flüchtlinge erhalten sogar nur 80 Cent.
Außerdem praktizierten die Kommunen verschiedene Modelle von Bürgerarbeit. Man setzte Erwerbslose etwa als zusätzliche Ordnungskräfte oder Müllsammler in Städten ein, ließ sie Grünanlagen und Denkmäler pflegen, in Pflegeheimen vorlesen. Eins hatten und haben alle Modelle gemeinsam: Man lässt Betroffene zu absoluten Dumpinglöhnen arbeiten, von denen alleine sie nicht leben können.
Arbeitspflichtmodelle für Outgesourcte sind keine Erfindung moderner Kapitalisten. Erinnert sei hier an die Arbeitshäuser, deren Geschichte von der frühen Neuzeit bis hinein ins Industriezeitalter reicht. Die deutschen Faschisten errichteten den Reichsarbeitsdienst. Das Ziel der Herrschenden dahinter ist deutlich: Man wollte die in Krisenzeiten vermehrt produzierte Erwerbslosigkeit unsichtbar machen und die Betroffenen – mehr oder weniger brutal – durch Beschäftigung davon abhalten, über ihre Situation nachzudenken.
Auch Heils Heilsversprechen knüpfen nicht an die realen Lebenshaltungskosten an. Ein „sozialer Arbeitsmarkt“ bescherte noch nie auskömmliche Lohnarbeit. Ferner verdrängt er Kleinbetriebe, zum Beispiel im Landschaftsbau, die ihre Leistungen teurer anbieten müssten. Ein solcher Sektor ist auch ein Sparmodell für den Staat auf Kosten Lohnabhängiger: Kommunen lagern einstmals auskömmliche Jobs im Bereich der Daseinsfürsorge in einen Dumping-Markt aus. Und letztlich werden Jobcenter wie immer mit Sanktionen arbeiten, also Erwerbslose unter Strafandrohung in die „Gemeinwohlarbeit“ zwingen.
Quelle: Rubikon
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