Eine gefährliche Situation

Bei der Münchner »Sicherheitskonferenz« beklagte der russische Außenminister die aggressive Politik gegenüber seinem Land und rief zu mehr Zusammenarbeit auf

Von Sergej W. Lawrow
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Seit Jahren ist Russland mit der Osterweiterung der NATO und einer verstärkten militärischen Präsenz von deren Truppen konfrontiert – US-Militärkonvoi auf dem Weg ins nordostpolnische Orzysz (28.3.2017)
Quelle: https://www.discred.ru/tag/vystuplenie-lavrova-na-myunhenskoj-konferentsii-2018-polnyj-tekst/
Übersetzung: Werner Kosler
Wir dokumentieren im folgenden die Rede, die der russische Außenminister Sergej Lawrow am 17. Februar 2018 bei der sogenannten Sicherheitskonferenz in München gehalten hat. (jW)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen,
heute, in einer Situation, in der die internationalen Beziehungen fundamentale Veränderungen erfahren, während noch immer über die These vom »Ende der Geschichte« diskutiert wird, sollten wir uns daran erinnern, was in nicht allzu ferner Vergangenheit geschehen ist. Wie sagte der bedeutende russische Historiker Wassili Ossipowitsch Kljutschewski: »Die Geschichte bestraft diejenigen, die ihre Lehren nicht zur Kenntnis nehmen.«
Vor 80 Jahren, im Jahr 1938, wurde hier in München die Teilung der Tschechoslowakei vereinbart, was zum Vorspiel des Zweiten Weltkrieg wurde. Später haben die im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher beschuldigten Führer des »Dritten Reiches« versucht, die Münchner Verschwörung zu rechtfertigen, ihr Ziel habe darin bestanden, »Russland aus Europa zu verdrängen«, wie unter anderen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel äußerte.

Geschichtsvergessenheit

In der Münchner Tragödie spiegeln sich die Schmerzsymptome jener Epoche wider – darunter der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit, die Selbstisolation und das gegenseitige Misstrauen, das Verlassen auf die Einrichtung von »Cordon sanitaires« und Pufferzonen sowie die offensichtliche Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder. Diese Erinnerungen sind besonders alarmierend, wenn man an die Versuche denkt, die historische Wahrheit des Zweiten Weltkriegs zu verzerren, etwa die Bemühungen, einige Nazis und deren Handlanger zu rehabilitieren, wie dies in einigen Ländern der Europäischen Union geschieht. Wir haben gesehen, wie dort mittels der Gesetzgebung ein Gleichheitszeichen zwischen Nazis auf der einen und den Befreiern Europas auf der anderen Seite gesetzt wurde; auch wurden Denkmäler zerstört, die den Siegern über den Faschismus gewidmet waren.
Man sollte meinen, dass die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Zerfall des Kontinents in der Epoche der Konfrontation zweier Lager den Völkern Europas für immer die Überzeugung vermittelt haben, dass es zur Errichtung eines »gesamteuropäischen Hauses« ohne Trennlinien, ohne die Scheidung seiner Bewohner in »unsrige« und »Fremde«, keine Alternative gibt. Aber selbst das Integrationsprojekt Europäische Union irgnoriert mittlerweile seine Wurzeln und vergisst das Bestreben seiner Gründungsväter, jegliche Konfrontationslogik, die den Kontinent nicht nur einmal in die Katastrophe gestürzt hat, auszuschließen.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands, bei der Russland die entscheidende Rolle gespielt hat, haben wir ein Höchstmaß an Anstrengungen unternommen, um im euro-atlantischen Raum eine Architektur gleicher und unteilbarer Sicherheit aufzubauen. Wir sind auf eine wesentliche Reduzierung des Militärpotentials im Westen des Landes eingegangen. Immer wieder haben wir uns für die Stärkung europäischer Institutionen, insbesondere der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), und für vertragliche Regelungen auf dem Gebiet der europäischen Sicherheit eingesetzt. Bedauerlicherweise hat man unsere Aufrufe zu einem gleichberechtigten Dialog und zur Umsetzung des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Sicherheit nicht hören wollen.
Ungeachtet der uns in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegebenen Zusagen ist die NATO nach Osten vorgedrungen. An unseren Grenzen werden Kampfeinheiten stationiert, und die Allianz erweitert ihre Infrastruktur. Planmäßig entwickelt sie das Theater militärischer Übungen. In Osteuropa wird von den USA ein Raketenabwehrsystem errichtet, das die strategische Stabilität untergräbt. Es gibt zielgerichtete Propaganda, die darauf zielt, in den westlichen Gesellschaft ein feindselige Stimmung gegenüber Russland zu schüren. Im politischen Establishment vieler Länder gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, entweder schlecht über unser Land zu reden oder sich zumindest nicht positiv zu äußern und zu schweigen.

Umzingelung und Erpressung

Wenn im Westen über einen gewachsenen Einfluss Russlands gesprochen wird, so geschieht das meist im negativen Sinne. Dieses Herangehen wählten auch die Autoren des Berichts, der in Vorbereitung auf die heutige Konferenz verfasst wurde. Ich möchte daran erinnern, dass unser Land geschwächt war und durch eine Periode historischer Anstrengungen gegangen ist. Wir haben von überall Zurufe des Interesses an einem »starken Russland« gehört, zugleich wurde uns stets versprochen, dass diese oder jene andere Handlung von Ländern in russischer Nachbarschaft nicht gegen unsere Interessen gerichtet seien. Entsprechende Zusicherungen wurden uns auch in Hinblick auf das EU-Projekt »Östliche Partnerschaft« gegeben. Das alles ist sehr gefährlich.
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Ein Ergebnis einer solchen Politik ist die Auslösung innerer Konflikte in der Ukraine, deren Regierung, dies sei nebenbei erwähnt, seinerzeit in Zusammenhang mit der Vorbereitung des Assoziierungsabkommens mit der EU ultimativ vor die Wahl gestellt wurde, zwischen dem Westen und Russland zu wählen. Traurigerweise war die EU, die eigentlich als Abkommensgarant gegenüber der ukrainische Regierung und der Opposition auftreten sollte, am 21. Februar 2014¹ zu schwach, um auf dessen Einhaltung zu bestehen, und hat damit faktisch dem verfassungswidrigen Staatsstreich Vorschub geleistet. Heute ist dieses Land, das über ein begabtes Volk verfügt und ein großes Potential hat, in den Zustand der Regierungsunfähigkeit geführt worden. Russland ist wie kein anderes Land interessiert an der Lösung der innerukrainischen Krise. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür existieren – es ist der Maßnahmenkomplex zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, wie er von Russland, Deutschland, der Ukraine und Frankreich unter Hinzuziehung von Donjezk und Lugansk sowie des UN-Sicherheitsrates erarbeitet worden ist (Minsk II, jW). Diese Maßnahmen sind ohne Wenn und Aber umzusetzen. Jedoch werden die Bemühungen der Kontaktgruppe zum »Normandie-Format« (Russland, Deutschland, Frankreich, Ukraine, jW) offensichtlich von der aktuellen Regierung in Kiew sabotiert, wo auf offizieller Ebene über eine militärische Lösung gesprochen wird. Ich bin überzeugt, dass in der EU die ganze Gefährlichkeit dieses Umschwungs verstanden wird.
Bedauerlicherweise halten die Versuche der EU an, die Länder in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Russland, sei es im Raum der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) oder auf dem Balkan, vor die Wahl zwischen dem Westen oder dem Osten zu stellen. In der deutschen Tageszeitung Die Welt (6.2.2018) ist ein Artikel erschienen mit der Überschrift »EU oder Putin – wer bekommt den Westbalkan?« Und das ist nicht der einzige Fall von Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Geiste einer Philosophie von Freund und Feind.
Wir erleben die Abkehr von der kollektiven Zusammenarbeit der EU mit Russland. Wir werden von Gipfeltreffen ausgeschlossen, Treffen des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats² werden ausgesetzt, ebenso fachbezogene Dialoge. Das alles macht einer verschärften Politik des Drucks Platz. Im Gegensatz zu den vormaligen Bemühungen um Sicherheit vergrößert sich das Konfliktpotential und erhöht sich die Zahl der Probleme und Krisen.
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Der russische Außenminister Sergej Lawrow konstatierte auf der Münchner »Sicherheitskonferenz«, Russland werde in den westlichen Medien als Feind und Bedrohung dargestellt (München, 17.2.2018)
Die Ereignisse im Nahen Osten und in Nordafrika haben gezeigt, dass der von den USA aufgezwungene Kurs zur Beseitigung unbotmäßiger Regime und das Überstülpen von Entwicklungsmodellen von außen in großen Gebieten nur zu Chaos führt und einen Bumerangeffekt hat. Eine solche Politik hat für Europa langfristig negative Auswirkungen. Ich spreche von der damit zusammenhängenden Ausbreitung des internationalen Terrorismus und den Wellen illegaler Migration.

Mythos der Bedrohung

Das bisher Gesagte ist zu berücksichtigen, um den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union zu verstehen. Unser Land unternimmt große Anstrengungen zur Entwicklung gegenseitig nutzbringender politischer Grundlagen. Jedoch ist die Aufgabe zur Schaffung einer wirklichen strategischen Partnerschaft, eines zuverlässigen und stabilen Systems von Verbindungen, die eine Erhöhung der gemeinsamen Wettbewerbsfähigkeit von Russland und der EU garantieren, bisher nicht realisiert. Aber das ist nicht unser Verschulden.
Unserer Ansicht nach hat es die EU in den vergangenen Jahren nicht verstanden, die goldene Mitte im Verhältnis unserer Länder zueinander herzustellen. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahmen die EU-Staaten gegenüber Russland die Haltung eines Lehrers ein. Sie behandelten unser Land wie einen Schüler, der es nötig habe, in Sachen westlicher Standards belehrt zu werden – und das ungeachtet seiner Gegenwehr. Mittlerweile herrscht längst der irrationale Mythos von der angeblichen Bedrohung durch Russland vor, dessen Spuren überall zu finden sind – vom »Brexit« bis zum katalanischen Volksentscheid über die Unabhängigkeit. Beide Stereotype, die des Schülers wie die des Aggressoren, sind zutiefst falsch. Sie zeugen von einem Mangel an gesundem Menschenverstand und einem fehlenden Verständnis gegenüber unserem Land. Wir stellen fest, dass in der EU die Zahl derer wächst, die Unzufriedenheit angesichts dieser anomalen Situation empfinden, wie sie sich in unseren Beziehungen ergeben hat. Bekannte Experten warnen mittlerweile offen davor, dass die EU in die Gefahr einer »diplomatischen Lähmung« gerät, für die sie teuer bezahlen könnte.
Russland hat seine Einstellung zur Zusammenarbeit mit der EU nicht geändert. Wir möchten uns eng mit ihr verbunden sehen, basierend auf den grundlegenden Interessen ihrer Mitgliedsländer. Diese sollten selbst bestimmen, wie ihre Wirtschaft und die Außenwirtschaftsbeziehungen zu entwickeln sind. Zum Beispiel, wie die Probleme der Energieversorgung gelöst werden können. Dazu bedarf es einer pragmatischen und an wirtschaftlichen Interessen orientierten Sichtweise – ohne politisch-ideologische Vorbehalte.

Bereitschaft zur Kooperation

Ich gehe davon aus, dass die Europäische Union willens und fähig ist, verantwortungsvoll, und ich betone: selbständig, ihre Rolle in den internationalen Angelegenheiten zu spielen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf das Interview Wolfgang Ischingers mit Bild (13.2.2018) lenken, in dem unser geschätzter Vorsitzender (der »Sicherheitskonferenz«, jW) von der Notwendigkeit einer Schärfung des außenpolitischen Profils der EU gesprochen hat. Es ist im Interesse Russlands und von großer Bedeutung, dass Russland, die EU, die USA und China bei der Schaffung einer Sicherheitsarchitektur zusammenarbeiten. Genauso könnte man auch im Persischen Golf vorgehen. Es ist im Interesse Russlands, an seiner Seite einen Nachbarn zu haben, der in der Lage ist, als verantwortungsvoller Teilnehmer am internationalen Leben in einer polyzentrischen Welt aufzutreten, welche in unseren Augen Realität geworden ist.
Es ist an der Zeit, aufzuhören, gegen den Strom der Geschichte zu schwimmen, und gemeinsam an der Erneuerung eines Systems internationaler Beziehungen auf fairer Basis zu arbeiten, gestützt auf die zentrale koordinierende Rolle der Vereinten Nationen und deren Charta. Russland ist offen für eine gleichberechtigte und respektvolle, auf einem Interessenausgleich basierende Zusammenarbeit mit der EU, für ein gemeinsames Vorgehen bei der Suche nach effektiven Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit. Auf den gleichen Prinzipien sind wir bereit, unser Verhältnis mit den USA und anderen Ländern zu gestalten.
Es ist von großer Bedeutung, das Potential einer Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU auszunutzen, so dass vom Atlantik bis zum Pazifik ein gemeinsamer Raum ungeteilter Sicherheit zwischen gleichberechtigten Nationen entsteht, der auch für eine sich gegenseitig befruchtende Entwicklung der Wirtschaft hilfreich ist. In strategischer Hinsicht möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Initiative unseres Präsidenten Wladimir Putin richten, die Inte­grationsvorhaben der GUS, der SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, jW) und der ASEAN-Staaten (Zusammenschluss südostasiatischer Länder, jW) stärker miteinander zu verbinden. Ich sehe keinen Hinderungsgrund, warum sich die EU nicht diesen Bemühungen anschließen sollte, beginnend beispielsweise mit der Herstellung von Fachkontakten zur Eurasischen Wirtschaftsunion.³ Ich hoffe, dass das nicht auf die lange Bank geschoben wird.
Anmerkungen der Redaktion:
1 Tag der Unterzeichnung der Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine
2 1997 auf Initiative der USA gegründeter Kooperationsrat, der das Ziel einer engeren politischen und militärischen Zusammenarbeit verfolgt. Zu den 50 Mitgliedern zählen alle 29 NATO-Staaten sowie die Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages
3 Zollunion bestehend aus Armenien, Belorussland, Kasachstan, Kirgistan und Russland
Quelle: Junge Welt 

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