Der SPD fehlt eine Vision
Personell wie inhaltlich steckt die deutsche Sozialdemokratie in einer tiefen Krise. Ein Gespräch mit Christoph Butterwegge
Von Peter Schaber![]()
Kein Markenkern, kein Mut, keine Perspektive: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands humpelt von einem Tief ins nächste
Foto: Paul Zinken/dpa
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Prof. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben sind seine Bücher »Armut« sowie »Hartz IV und die Folgen« in aktualisierten Neuauflagen erschienen. Im Februar 2017 kandidierte er, unterstützt von der Partei Die Linke, für das Amt des Bundespräsidenten
Die Hauptgründe für meinen SPD-Austritt waren die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze. Hartz IV ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. Da hätte ich der Partei eigentlich den Rücken kehren müssen, ich habe es aber aus jahrzehntelanger Verbundenheit noch hinausgeschoben. Schluss war dann für mich, als die SPD in die große Koalition ging, obwohl es eine rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag gegeben hätte. Ich konnte da keine Wende weg von der »Ära Schröder« hin zu einem neuen Politikstil und neuen Inhalten erkennen, es wurde vielmehr modifiziert mit der Agenda-2010-Linie weitergemacht: Deregulierung des Arbeitsmarktes, Demontage des Sozialstaates, eine unsoziale Steuerpolitik. Das war die Fortsetzung genau jener Politik, die ich in der SPD bekämpft hatte.
Leider sehe ich heute immer noch keinen Wandel. An Hartz IV wird auch im Koalitionsvertrag nicht gerüttelt. Jetzt gibt es zwar keine rot-rot-grüne Mehrheit, aber deshalb muss ja nicht wieder eine Koalition mit der Union gebildet werden, zumal der Koalitionsvertrag eben keine sozialdemokratische Handschrift trägt.
Nicht wenige Wähler der SPD scheinen das ähnlich zu sehen wie Sie. Die Sozialdemokratie befindet sich in einer tiefen Krise. In verschiedenen Umfragen liegt sie unter 20 Prozent. Was wären die thematischen Kernpunkte einer Neuaufstellung der Partei?
Ein Webfehler dieser Koalition, die ja noch vom Mitgliederentscheid abhängt, besteht im Fehlen eines Leuchtturmprojekts, durch das sich die SPD von der Union unterscheiden würde. In der letzten »Groko«, die nicht besonders erfolgreich war, gab es wenigstens noch den Mindestlohn als historischen Markstein – auch wenn er bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurde durch Ausnahmen und durch die geringe Höhe.
Wenigstens aber war da noch ein Projekt, von dem man hätte sagen können: Mit dieser Kernforderung kann man CDU und CSU in die Defensive drängen. Aber heute gibt es nichts dergleichen. Eine solidarische Bürgerversicherung hätte das Potential gehabt. Dies wäre ein programmatisches Kronjuwel der SPD, das sie allerdings selber schon weitestgehend inhaltlich ausgehöhlt hat.
Eine Bürgerversicherung müsste umfassender sein als das, was die SPD darunter versteht: Sie müsste alle Bevölkerungskreise einschließen – also auch Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister – und die Verbeitragung aller Einkünfte vorsehen, also auch von Kapitalerträgen. Die Forderung, dass neben Löhnen und Gehältern zudem Dividenden, Zinsen, Miet- und Pachterlöse einbezogen werden, war ursprünglich auch bei der SPD vorgesehen. Davon hat sich die Partei aber wieder verabschiedet. Eine solidarische Bürgerversicherung sollte auch nicht auf den Gesundheitsbereich beschränkt sein. Die Beitragsbemessungsgrenze müsste auf- oder zumindest stark angehoben werden. Dann wäre das ein sinnvolles Projekt, um den Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament zu stellen.
Damit könnte sich die SPD dann auch tatsächlich von den Unionsparteien unterscheiden, aber in der zukünftigen Koalition erkenne ich das nicht. Als »sozialdemokratische Handschrift« im Koalitionsvertrag wird bezeichnet, was – wie im Fall der Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung – nicht mehr als Reparaturen dort sind, wo die SPD selbst tragische Fehler begangen hatte. Oder nehmen wir den Familiennachzug von subsidiär Geschützten: Da hat die SPD selbst die Aussetzung mitzuverantworten. Jetzt versucht sie im Koalitionsvertrag, den Familiennachzug wieder teilweise möglich zu machen.
Voran geht es da nirgends. Die SPD hat keine Vision. Sie ist nur dabei, mühselig zu reparieren, was sie in früheren Regierungen selbst angerichtet hat.
Neben der Vision fehlen ja auch die Visionäre. International gibt es da und dort sozialdemokratische Hoffnungsträger – Jeremy Corbyn oder »Bernie« Sanders –, hierzulande sieht es da eher dürftig aus, oder?
Dass Kevin Kühnert als 28jähriger Jusovorsitzender zum Hauptgegenspieler der »Groko«-Befürworter und von Martin Schulz aufgestiegen ist, ist für mich auch ein Ausdruck der personellen Schwäche der SPD-Linken. Hier gibt es niemanden. Ralf Stegner schießt hin und wieder quer, aber eine charismatische Alternative verkörpert er nicht. Und Andrea Nahles oder Olaf Scholz stehen auch nicht für eine Erneuerung der Sozialdemokratie.
Das, was der Bonner Parteitag vor kurzem beschlossen hatte, also eine Erneuerung der Partei, findet auch künftig nicht statt. Und unter Andrea Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzende wird es keinen Aufbruch geben. Sie ist seit über 20 Jahren im Geschäft und hat die klassische Diagonalkarriere hingelegt: von links unten nach rechts oben.
Man kann befürchten, dass von der Selbstzerstörung der SPD vor allem die AfD profitieren wird …
Das fürchte ich auch. Die Stärke der AfD resultiert aus einer Schwäche der Linken – der gesamten, nicht nur der Linkspartei. Wenn es attraktive Angebote für sozial Benachteiligte, für Arbeitnehmer auf der Linken gäbe, dann hätte die AfD keinen solchen Aufschwung erlebt. Der Niedergang der SPD ist da ein wichtiger Faktor.
Wenn die Sozialdemokratie weder Glaubwürdigkeit hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit noch politische Geradlinigkeit ausstrahlt, ist das eine Traumvorlage für Rechtspopulisten, die ja mittlerweile auch in den Parlamenten agieren. Einen wesentlichen Bestandteil bildet der Sozialpopulismus: sich als Stimme der Vernachlässigten und Unterprivilegierten darzustellen, als Sprachrohr des einfachen Volkes. Und das gelingt den Rechten natürlich um so besser, je weniger die SPD als klassische Arbeiterpartei dazu in der Lage ist, zu vermitteln, dass sie noch die Interessen jener vertritt, für die sie vor über 150 Jahren gegründet wurde.
Gerade im Hinblick auf diese Gefahr müsste man doch eigentlich eine Kehrtwende einleiten. Aber kann die SPD überhaupt noch anders? Oder hat sie sich schon auf Gedeih und Verderb auf das »Weiter so« festgelegt?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die große Mehrheit der SPD-Mitglieder treue Parteisoldaten sind. Und eine Ablehnung des Koalitionsvertrages im anstehenden Mitgliederentscheid würde bedeuten, die gesamte SPD-Führung zum Teufel zu jagen. Es wäre ein Misstrauensvotum und der Entzug des Mandates, in dieser Regierungskonstellation Politik zu machen. Das wäre ein riesiger Eklat und würde weit über die SPD hinaus Wellen schlagen.
Die Krise der Sozialdemokratie ist ja nicht auf Deutschland beschränkt: Niederlande, Frankreich, Österreich, auch in den skandinavischen Ländern hat sie die sozialdemokratischen Parteien erreicht. Die Ausnahme ist vielleicht die britische Labour Party mit Jeremy Corbyn. An diesem Beispiel sollte sich die SPD orientieren. Man müsste glaubhaft eine Abkehr von der neoliberalen Reformpolitik vermitteln. Dass Martin Schulz mit dem Leitmotiv der sozialen Gerechtigkeit geradezu einen Hype ausgelöst hatte, zeigt doch, dass die SPD durchaus attraktiv sein kann für große Wählergruppen. Aber eben nur, wenn sie das, was ihr »Markenkern« ist, nämlich soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, in den Mittelpunkt ihrer Politik rückt.
Wenn man das aber tut, dann kann man nicht zugleich etwa bei Hartz IV nur Kleinigkeiten ändern wollen. Martin Schulz hatte ja nur vorgeschlagen, das Schonvermögen von 150 Euro pro Lebensjahr auf 300 Euro zu verdoppeln. Diese Forderung ist nicht falsch, aber sie wendet sich an eine kleine Minderheit der Hartz-IV-Bezieher, nämlich jene, die überhaupt Vermögen haben. Zu den niedrigen Regelbedarfen, zu den Sanktionen, zum fehlenden Berufs- und Qualifikationsschutz, zu der Forderung, dass man jeden Job annehmen muss, sofern er nicht sittenwidrig ist, zu all dem hat Schulz geschwiegen, wie ja alle etablierten Parteien zuletzt selbst den Begriff »Hartz IV« mieden.
Das ist einfach unglaubwürdig. So ist Schulz zur tragischen Figur geworden, gestartet wie eine Rakete und gelandet als Rohrkrepierer. Der SPD als Ganzes droht das gleiche Schicksal, wenn sie keinen Richtungswechsel vollzieht.
Ein solcher Richtungswechsel wäre ja einer um 180 Grad. Glauben Sie, dass die SPD das leisten kann?
Ich habe da wenig Hoffnung. Die Krise der Sozialdemokratie führt bei ihrem pragmatischen Regierungsflügel ja nicht dazu, dass man die ausgetretenen Wege verlässt und neue Pfade betritt, sondern man stützt sich auf das, was schon da ist. Gerade die beiden Politiker, auf die die SPD jetzt setzt, Andrea Nahles und Olaf Scholz, sind Parteifunktionäre, die den Niedergang der Partei begleitet, wenn nicht selbst als Generalsekretär bzw. Generalsekretärin und später in Ministerämtern mit herbeigeführt haben. Gerade im Hinblick auf diese Personalien bin ich eher pessimistisch.
Quelle: Junge Welt
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