Die Spiegel Affäre




Im Licht der aufgedeckten Fälschungen steht der „Spiegel“ ansonsten super sauber da. Zu Unrecht.
Im Licht der aufgedeckten Fälschungen steht der „Spiegel“ ansonsten super sauber da. Zu Unrecht.
Albrecht Müller

Auf 13 eng beschriebenen Seiten hat der Spiegel-Redakteur Ullrich Fichtner einen „Betrugsfall im eigenen Haus“ offengelegt. Im Detail beschreibt der Autor die Fälschungen des Claas Relotius einschließlich der sich häufenden Ehrungen für den jungen Spiegel-Redakteur. Diese Geschichte ist einschließlich der öffentlichen Entschuldigung so clever erzählt, dass der Spiegel als Ganzes super sauber dasteht. Deshalb muss angemerkt werden: Mit der meisterhaft formulierten Offenlegung der Fälschungen des Claas Relotius werden zugleich all die ähnlichen Fälle des Versagens des „Spiegel“ verdeckt, obwohl die anderen Fälle von Manipulation um vieles gravierendere Folgen haben als die Fälschungen des gerade ertappten Redakteurs. Albrecht Müller.
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Die Geschichte kurz erzählt:
Der ehedem freie und dann fest angestellte Redakteur Relotius hat viele seiner Geschichten manipuliert. Er hat Personen und Storys frei erfunden. Es ging zum Beispiel um Geschichten über Kinder in Syrien, um Gefangene auf Guantanamo und um Bürgerwehren in Arizona. Das besonders Peinliche: Redakteur Relotius hat reihenweise Preise eingeheimst und schamlos Elogen über sich ergehen lassen. Düpiert und bloßgestellt sind damit also nicht nur die Spiegel-Redaktion einschließlich der sogenannten Qualitätssicherung, sondern auch ehrenwerte preisverleihende Institutionen und Laudatoren. – Ein Kollege des Fälschers war ihm auf der Spur, fand aber in der Redaktion des Spiegel lange Zeit kein Gehör. Ein beiläufiger Treppenwitz des gesamten Vorgangs: eine Bürgerwehr(!) in Arizona gab entscheidende Tipps zu Entdeckung der Fälschung.
Fälschungen der aufgedeckten Art können passieren. Wirklich stören muss, dass jetzt vom Spiegel der Eindruck erweckt wird, als sei ansonsten alles in Ordnung, als würde der Spiegel ansonsten vor allem die Wahrheit schreiben. Dieser falsche Eindruck zwingt zum Widerspruch:
  1. Der aufgeflogene Fall ist harmlos verglichen mit der Tatsache, dass sich der Spiegel als Instanz der Aufklärung und der kritischen Begleitung des politischen Geschehens in Deutschland verabschiedet hat. Das ist um vieles schlimmer als die Fälschungen des Redakteurs Relotius.
    • Wo war die kritische Begleitung der Agenda 2010?
    • Wo die kritische Begleitung der NATO-Osterweiterung?
    • Wo die kritische Kommentierung der völkerrechtswidrigen Bombardierung Restjugoslawiens?
    • Wo die kritische Begleitung der Ausweitung der Leiharbeit? Wo die kritische Begleitung der Matadore dieser Fehlentwicklung, zum Beispiel Wolfgang Clement und Bodo Hombach?
  2. Der Spiegel hat Kampagnen zur Prägung der öffentlichen Meinung und infolgedessen auch der politischen Entscheidungen betrieben und mitbetrieben. – Das ist um vieles schlimmer, weil in der Wirkung gravierender als die Fälschungen des Starredakteurs Relotius.
    Es gibt viele Belege für die Beteiligung des Spiegel an manipulativen Kampagnen, ein paar Beispiele:
    1. Musterbeispiel demographischer Wandel und Altersvorsorge:
      Der Spiegel hat die Dramatisierung des demographischen Wandels massiv betrieben. Dazu ein eindeutiger Spiegel-Titel und ein einschlägiger Artikel:
      Zusätzlich wird dann noch ein Foto mit lauter Babybetten gezeigt. Alle Betten sind leer, außer einem.
      Der folgende Artikel mit dem unsäglichen Titel „Raum ohne Volk“ erschien schon im Jahre 2000. Schon drei Jahre früher begann die Kampagne, an der sich der Spiegel eifrig beteiligt hat.
      Mit der Dramatisierung des demographischen Wandels wurde beim Spiegel wie bei der Mehrheit aller anderen einflussreichen Medien die Botschaft verbunden, der Generationenvertrag trage nicht mehr und deshalb müssten wir mehr privat vorsorgen.
      Der Spiegel war in dieser Kampagne zugunsten der Versicherungswirtschaft und der Banken nicht nur Partner der öffentlich-rechtlichen Medien, sondern auch der Bild-Zeitung. Auch auf anderen Feldern der Politik ist der Unterschied zwischen der Bild-Zeitung und dem Spiegel nicht mehr gravierend. Man versteht sich, man tauscht Personal aus, usw.
    2. Die Kampagne zur Vorbereitung der Agenda 2010 und deshalb die Darstellung Schröders als Kanzler der Gewerkschaften
      Was Sie hier sehen, ist eine gekonnte Lachnummer:
      Da wird unterstellt, Schröder habe sich nach der Wahl 2002 den Forderungen der Gewerkschaften gebeugt, er entferne sich von der Mitte. Diese Beobachtung war frei erfunden, also mindestens so gefälscht wie die Fälschungen des Anfang Dezember 2018 ertappten Redakteurs. Es stimmte nahezu nichts daran, im Gegenteil: Schröders Mann im Bundeskanzleramt, Steinmeier, ließ zeitgleich die Agenda 2010 vorbereiten und deshalb schon fünf Wochen nach Erscheinen des Titels vom 18. November 2002 ein sogenanntes Kanzleramtspapier lecken. Das war der Vorläufer der Agenda 2010.
    3. Die Kampagne gegen Russland und insbesondere gegen Putin
      Die Ablösung des folgsamen und dem Westen zugetanen Jelzin durch Putin passte den imperialen Meinungsmachern im Westen nicht. (Siehe dazu auch: Aber der Putin! Die übliche Leier, so auch am Sonntag wieder bei Anne Will. ) Deshalb läuft von Beginn an eine Kampagne gegen die russische Führung – mit gekonnter und fälschender Beteiligung des Spiegel:
      Die auf dem nächsten Spiegel-Cover abgebildeten Personen sind die beim Absturz der Maschine MH 17 getöteten Personen. Ihr Tod wird direkt dem russischen Präsidenten zugeschrieben:
      Beide Konsequenzen, der Neuaufbau des Feindbildes Russland und der wachsende Konflikt zwischen West und Ost wie auch die Konsequenz der Kampagne zur Demographie, die Stärkung der privaten Vorsorge, haben gravierende Bedeutung für unsere Gesellschaft: zum einen für die Chance, uns Kriege zu ersparen, zum anderen für die Chance, Altersarmut zu vermeiden.
      Der Spiegel beteiligt sich wie dokumentiert an diesen und einer Reihe anderer Kampagnen zur Meinungsbeeinflussung und Entscheidungsfindung. Das hat unsere Gesellschaft zum Schlechteren verändert und den Frieden in Europa unsicherer gemacht und kostet uns im Übrigen Unsummen Geld. Rüstung und Militär sind wieder hoffähig geworden – und dies unter kräftiger Mitwirkung von Medien wie dem Spiegel, von denen man eine kritische Begleitung erwarten müsste.
  3. Der Spiegel hat die Manipulationen, denen wir von Seiten der Politik und der Lobby ausgesetzt sind, nicht systematisch analysiert und kritisiert. Das wäre aber, wenn der Spiegel ein wenigstens halbwegs kritisches Organ hätte bleiben wollen, seine Aufgabe gewesen.
    Beispiele:
    Es wird uns täglich erzählt, wir hätten Fachkräftemangel. Diese von Wirtschaftsseite gezielt gestreute Behauptung, wird vom Spiegel nicht ausreichend hinterfragt.
    Es wird uns erzählt, wir bräuchten deshalb Zuwanderung. Von einem ursprünglich kritischen Organ wie dem Spiegel hätte man erwarten müssen, dass dort systematisch analysiert und beschrieben wird, was das für die Herkunftsländer bedeutet: den Verlust von jungen ausgebildeten Menschen. Das nennt man Ausbeutung der Schwächeren.
    Die Strategen der Angela Merkel und der CDU haben die Parole ausgegeben, die CDU und ihre Vorsitzende hätten sich sozialdemokratisiert. Das war klar als Strategie erkennbar. Als Manipulation ohnehin. Wo war die unentwegte kritische Analyse dieser Strategie?
    Die öffentliche Debatte ist über weite Strecken in einen Austausch von Parolen entartet: Populismus, Rechtspopulismus, Linkspopulismus, Zivilgesellschaft – das sind Worthülsen, in die jeder füllen kann, was er will. Der Spiegel müsste den alltäglichen Gebrauch dieser Parolen analysieren und kritisch hinterfragen.
  4. Der Spiegel hat sich nahezu komplett zum Medium der Oberschicht gemausert. Er war nie das Organ der Arbeitnehmerschaft, aber früher nicht so klassenbewusst wie heute. Er hat nichts Entscheidendes zur Aufklärung über die Spaltung unserer Gesellschaft beigetragen. Die immer schlimmer werdende Einkommens- und Vermögensverteilung ist kein Topthema des Magazins.
    Das waren nur ein paar wenige Beispiele dafür, dass die Reduzierung des Versagens des Spiegel auf die Fälschungen des Claas Relotius an Wahrheit und Wirklichkeit weit vorbeigeht.
    Der Autor Ullrich Fichtner zitiert als besonderes Markenzeichen des Spiegel drei Worte, die die Eingangshalle des Spiegel in Hamburg zieren: „Sagen, was ist.“ Er schreibt dann weiter:
    „Das ist der Auftrag immer gewesen, und niemand sollte die silbernen Lettern für bloßen Wandschmuck oder journalistische Folklore halten. Sagen, was ist, das heißt in den Worten des Statuts von 1949:
    “Alle im SPIEGEL verarbeiteten und verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen Berichtigungen kann sich der SPIEGEL nicht erlauben.”
    Das gilt. Es ist Verpflichtung. Wort für Wort.
    Deshalb markiert der Fall Relotius einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des SPIEGEL.
    Genau das trifft nicht zu. Die vom Spiegel mitbetriebenen Kampagnen sind der viel gravierendere Tiefpunkt in der langen Geschichte dieses Magazins. Der Tiefpunkt ist der völlige Ausfall des Magazins als kritischer Begleiter des Geschehens. Weil der Spiegel als kritisches Organ ausgefallen ist, haben wir sehr viel schlechtere politische Entscheidungen als in besseren Zeiten des Hamburger Magazins. Die Fälschungen des Claas Relotius mögen die Kollegen des Spiegel und den Verlag noch lange beschäftigen. Uns alle beschäftigt sehr viel mehr der Ausfall des Magazins als demokratische Instanz. Und dieser Verlust hat mit dem jungen Redakteur nun wahrlich nichts zu tun.

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