Die Debatte über #Chemnitz zeigt, wie zwiegespalten unsere Gesellschaft mittlerweile ist
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Zeitungen werden über möglichst schrille Schlagzeilen verkauft und im ohnehin schon hyperventilierenden Onlinebereich muss man sogar noch ein Schippe drauflegen, um Klicks und damit Werbeeinnahmen zu generieren. Anders ist die momentane Dauererregung der veröffentlichten Meinungen kaum noch zu erklären. Ein Superlativ jagt den nächsten, wenn es nicht gleich ein Hauch von Weimar ist, so werden zumindest Parallelen zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagengezogen. Geht es nicht ein bisschen kleiner und leiser? Sogar der vielzitierte Begriff „Hetzjagd“ erscheint bei unaufgeregter und differenzierter Betrachtung überzogen. Kann man die widerliche Hetze und den Hass, der zweifelsohne von ein paar Dutzend rechtsextremer Aktivisten in Chemnitz hinausgebrüllt wurde, nicht scharf kritisieren, ohne die Situation derart maßlos zu dramatisieren?
Nun werden sicher auch einige Leser sagen, dass man gerade beim Thema Rechtsextremismus nicht vorsichtig genug sein kann und es doch besser sei, einmal mehr auch in schrillen Tönen zu warnen als einmal zu wenig. Ist das wirklich so? Ich habe da meine Zweifel. Die eigentliche Frage sollte doch sein, wen und was man überhaupt erreichen will. In meiner eigenen Echokammer muss ich dieses Thema überhaupt nicht mehr anschneiden – da ist man sich ohnehin einig, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit verachtenswert sind. Man muss keine Eulen nach Athen tragen. Im politischen Mainstream sieht die Sache jedoch ein wenig anders aus. Dort sind die Motive jedoch meist auch gar nicht mal so klar.
Teile und herrsche
Der Kampf „gegen Rechts“ ist über die Jahre hinweg zu einem gemeinsamen, ja fast schon sinnstiftenden Merkmal der politischen Linken geworden. Gegendemonstrationen bei AfD-Kundgebungen oder gemeinsame Märsche gegen rechte Gewalt finden vom Funktionär des rechten Flügels der IG Metall bis hin zur Vertreterin des Antifa-Flügels der Linkspartei Anklang. „Gegen Rechts“ zu sein, ist heute der kleinste gemeinsame Nenner der politischen Linken, die sich ansonsten bei so ziemlich keinem weiteren Thema wirklich einig ist. Und natürlich ist auch die politische Mitte zumindest verbal „gegen Rechts“ und so läuft das Bekenntnis „gegen Rechts“ zu sein mittlerweile schon fast Gefahr, beliebig zu werden. Auch die BILD gibt ja vor, „gegen Rechts“ zu sein, druckt aber dennoch regelmäßig ihre fremdenfeindlichen Titelseiten. Dies zeigt, was das Lippenbekenntnis wert ist und lässt sich auch auf das „linke Lager“ übertragen.
Denn wenn sozioökonomische Faktoren der Hauptgrund für die Wahlerfolge der AfD sind und vor allem – aber nicht nur – im Osten des Landes zur Entstehung einer rechtsextremen Szene beigetragen haben, dann sind genau diejenigen für das Erstarken des Rechtsextremismus mitverantwortlich, die heute ganz vorne bei den Gegendemonstrationen mitmarschieren – die Anhänger des Agendaflügels von SPD und Grünen. Denn ohne die Hartz-Gesetze, ohne die vorsätzliche Herbeiführung von Altersarmut und prekären Arbeitsverhältnissen hätten die Spaltung und der Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft sicher so nie stattgefunden.
Glückliche Menschen wählen keine Nazis und haben keine Angst vor Überfremdung. Menschen ohne Zukunftsängste sind immun gegen die Gaulands und Höckes. Das Erstarken der Rechten ist also auch eine Folge der Politik derer, die sich heute den Kampf „gegen Rechts“ auf ihre Fahnen schreiben. Das hat System. Denn wer „gegen Rechts“ marschiert, ist natürlich für Außenstehende erst einmal unverdächtig, den Nährboden geschaffen zu haben, auf dem der Rechtsruck gedeiht. Teile und herrsche.
Und sogar Teile der Linken, die sich ganz besonders im Kampf „gegen Rechts“ hervortun, stehen durchaus im Verdacht, mit diesem gemeinsamkeitsstiftenden Bekenntnis auch davon ablenken zu wollen, dass sie ihre sozioökonomischen Forderungen bereits in himmlische Sphären ausgegliedert haben. Wer das Seelenheil erst in einer postkapitalistischen Post-Wachstums-Utopie mit offenen Grenzen und einem bedingungslosen Grundeinkommen sieht, hat den Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen, denen es nicht so gut geht, im Inneren doch schon lange aufgegeben. Und wenn die Menschen dann lieber den braunen Spatz in der Hand als die rote Taube auf dem Dach wählen, wird dies als Auftrag interpretiert, noch entschlossener „gegen Rechts“ zu marschieren. Es ist zum verrückt werden.
Ist ja alles so schön tolerant hier
Das alte Partisanenlied „Bella Ciao“ ist in einer Kaugummi-Techno-Version der Sommerhit dieses Jahres und offenbar kommen sich auch sehr viele Leitartikler in diesem Sommer vor wie publizistische Partisanen, die mutig in die Berge ziehen und den Faschismus bekämpfen. Wie absurd. Wenn Publizisten, die wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr mit Menschen gesprochen haben, die kein Abitur haben und weniger als 5.000 Euro im Monat verdienen (Kellner, Putzfrauen oder Taxifahrer einmal ausgeklammert), sich nun zu mutigen Sprechern des Volkes erklären, so ist dies vor allem eins – billig. Natürlich sind die von den Leitartiklern bevölkerten Echokammern im Berliner Regierungsviertel ganz fürchterlich tolerant. Aber welchen Sinn hat es schon, die eigene Echokammer zu bespaßen? Die Gefahr, dass ein ZEIT-Redakteur, ein Grünen-Abgeordneter oder Sascha Lobo morgen aus Chemnitz eine national befreite Zone machen wollen und durch die schlauen, toleranten Leitartikel nun davon abgehalten und eines Besseren belehrt werden, ist doch … überschaubar.
Genau so überschaubar ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass derartige Leitartikel von den abgehängten Menschen, die zu Rechtsextremismus neigen, überhaupt gelesen werden. Das Alltagsleben eines Erwerbslosen aus der Dortmunder Nordstadt hat nun einmal sehr wenig mit dem Alltagsleben eines Medienhipsters vom Prenzlauer Berg zu tun. Hier ist die Frage eher, ob man die Wochenzeitung ZEIT überhaupt kennt. Wir haben nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell eine zwiegespaltene Gesellschaft, in der es immer weniger Kontaktpunkte gibt. Der ZEIT-Redakteur hat mehr mit seinen Kollegen aus den Zentren von London oder New York zu tun als mit Nicht-Akademikern aus dem Ruhrgebiet, dem niedersächsischen Schweinegürtel oder den leerstehenden Plattenbauten in Frankfurt/Oder. Das ist in Zeiten der Globalisierung ja auch normal. Problematisch wird es jedoch, wenn der ZEIT-Redakteur nun versucht, seiner Echokammer zu erklären, warum die „Abgehängten“ nicht mehr an unsere ach so tolle liberale Demokratie glauben und den liberalen westlichen Werten nicht mehr vertrauen.
Der Sachse ist ein doofer Nazi
Nur wenige Menschen werden aus sozioökomischen Gründen rechtsextrem. Konkrete Antworten auf derartige Probleme hat die Rechte ohnehin nicht. Die sozioökonomische Schieflage ist jedoch oft Grund dafür, dass Menschen sich aus dem System ausklinken und die Fremdenfeindlichkeit als Ventil für die im Kessel gärende diffuse Unzufriedenheit wählen. „Weil man ja gegen irgendwen sein muss, und mit denen ist es einfach“ – wie es eine Chemnitzerin frank und frei ausdrückte. Solche Menschen lesen nur in den seltensten Fällen die Leitartikel unserer schöngeistigen Qualitätszeitungen, bekommen aber indirekt natürlich schon etwas von der Stimmungslage im Lande mit. Wenn man nun pauschal gegen die doofen Sachsen poltert, die ja ohnehin alle irgendwie rechts sind, wird man damit ganz sicher keinen einzigen Sachsen davon abhalten, die AfD zu wählen. Überhaupt ist die Fixierung auf Sachsen dämlich. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hat die AfD ebenfalls zweistellige Wahlergebnisse erzielt und fremdenfeindliche Übergriffe gibt es leider auch im gesamten Bundesgebiet. Dortmund ist da als rechter „Hotspot“ kein Deut besser oder schlechter als die Pegida-Stadt Dresden.
Im Regierungsviertel werden solche Differenzierungen jedoch nicht gerne vorgenommen. Dort überschlägt man sich förmlich wieder einmal in Sorge um die liberale Demokratie. Diese Sorge wird – wenn überhaupt – von den „Gefährdern“ selbst wohl eher mit Genugtuung aufgenommen. Die AfD-Klientel, die nicht zum reaktionären, wohlsituierten Bürgertum gehört, versteht sich eher als „Systemgegner“ und will einen möglichst großen Schraubenschlüssel ins Getriebe des als elitär empfundenen Politikbetriebs in Berlin werfen. Je schriller die Vertreter dieser Eliten sich nun aufregen, desto zufriedener können diese „Systemgegner“ sich die Hände reiben.
Wer sich nun Sorgen um die „liberale Demokratie“ macht, ohne die sozioökonomische Schieflage auch nur anzusprechen, spricht also ebenfalls vornehmlich zur eigenen Echokammer. Auf dass der Herr Professor, der Chefredakteur und der Konzernboss andächtig nickend zustimmen. Doch was sind die „Kollateralschäden“ solcher Kommunikationspolitik?
Es wird verallgemeinert, was das Zeug hält. Alles Nazis außer Mutti. Was geht nun aber in einem Chemnitzer vor, der sich Sorgen über den Verfall der Sicherheit im Innenstadtbereich macht und als politisch Unentschlossener die Demonstrationen besucht hat, die von einer kleinen, aber überaus „fotogenen“ Schar von Rechtsradikalen für ihre Zwecke gekapert wurden? Wenn wir die Unzufriedenen pauschal in die rechte Schublade stecken, könnten sie sich irgendwann dort heimisch fühlen. Und dann haben wir genau die selbsterfüllende Prophezeiung, die zum endgültigen Rechtsruck an den Wahlurnen führen wird. Wenn die ganze Welt diese Unzufriedenen in die Nazi-Schublade packt, ohne ihnen eine ernste Alternative bieten zu können, dann werden viele dieses Verdikt akzeptieren und sich wie Nazis benehmen und wie Nazis wählen. Wenigstens kann der Rest dann gemeinsam „gegen Rechts“ marschieren. Ist es wirklich das, was wir wollen?
Quelle: NachDenkSeiten
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